Handbuch der Ethnotherapien

Ein Überblick über die Vielfalt der Heilmethoden

Paperback, 564 Seiten, zahlreiche Autoren, zahlreiche Abbildungen, €49,90,
ISBN-13: 9783831141845

Inhalt und Leseprobe zum Download

Ein Überblick über die Vielfalt der Heilmethoden

Aus der Einleitung von Dr. Phil. Claudia Müller-Ebeling:

In diesem Handbuch der Ethnotherapien geht es um vielfältige Heilmethoden. Heiler und Schamanen aus fernen Ländern führen uns zeitlich zurück in unsere eigene europäische Vergangenheit und entführen uns auch geographisch in andere, außereuropäische Kulturen. Dabei entdecken wir, dass die Vergangenheit in alternativen Heilverfahren lebendig ist, die sich bei uns in den letzten Jahrzehnten entwickelten. Und wir erkennen, dass andere Kulturen gänzlich andere Konzepte von Diagnose und Heilung haben – und Krankheit und Gesundheit unter Umständen anders definieren als wir!

In den Kapiteln des Handbuchs zeigen sich Gemeinsamkeiten wie auch Unter- schiede. So vertraut oder exotisch fremd uns diese vielfältigen Ansätze auch erscheinen mögen – sie alle teilen dasselbe Ziel: Das Erkennen von Krankheiten und die Heilung der Patienten. Was sie kulturübergreifend miteinander verbindet - und gleichzeitig von der westlichen Schulmedizin unterscheidet - ist das Konzept der Einheit von Körper, Geist und Seele.

Die westliche Schulmedizin widmet sich vornehmlich dem Körper. Den Geist lässt sie meistens, die Seele immer außer Betracht. Sie analysiert den Patienten als isolierte Einheit und meist unabhängig von seiner Umgebung. Bei uns geschehen ärztliche Untersuchungen hinter verschlossenen Türen und gehen nur Arzt und Patient etwas an.

Außereuropäische Heilsysteme beschäftigen sich mit der Einheit von Körper, Geist und Seele. Darin unterscheiden sie sich vom naturwissenschaftlichen Ansatz. Sie betrachten Patienten im Kontext von Familie, Gesellschaft, Natur und Kosmos. Diagnose und Therapie sind eine öffentliche Angelegenheit und keine Privatsache. Ähnlich verhielt es sich mit Heiltraditionen, die in unserer Kultur in der Vergangenheit lebendig waren und heute in alternativen Heilverfahren zunehmend mehr Beachtung finden.

Schamanismus

Schamanismus ist keine Religion, sondern eine Technik, durch die mit Hilfe von veränderten Bewusstseinszuständen Einblick in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gewonnen und geheilt werden kann. Diese Technik ist etwa 60.000 Jahre alt und war früher weltweit verbreitet. In manchen Kulturen blieb er bis heute lebendig, vor allem in Asien und Südamerika. Je nach Kultur bildete sich Schamanismus unterschiedlich aus.

Mancherorts sind beide Geschlechter aktiv tätig (Nepal, Sibirien), anderswo ist Schamanismus fast ausschließlich Sache von Frauen (Korea) oder aber Männer- sache (Amazonas).

In Nepal, Ladakh und (eingeschränkt) auch in der Mongolei, arbeiten Heiler bei der Heilung von Patienten zusammen. Sie unterstützen sich gegenseitig bei aufwendigen Heilzeremonien und wechseln einander ab. Auch wenn es fähige, kraftvolle wie auch weniger mächtige, schwächere Schamanen gibt, existiert nicht wirklich eine Hierarchie untereinander. Man respektiert die Fähigkeiten gegenseitig und ergänzt sich.

In Korea und im Amazonasgebiet ist diese archaische Heiltechnik hingegen kämpferisch und wettbewerbsorientiert. Dort kämpfen Heiler um Macht und Einfluss - und zwar sowohl in der sichtbar materiellen Welt der Menschen, als auch in der unsichtbaren Welt von Hilfsgeistern und Dämonen. Heiler attackieren sich in Trance ggf. gegenseitig und jagen sich mächtige Schutz- und Hilfsgeister ab.

Die eine Variante ist nicht besser oder schlechter als die andere, auch wenn uns die friedliche Form "besser gefallen" mag. Das schamanische Universum ist zyklisch - im Gegensatz zu unserem linearen Weltbild. Nichts ist gut oder schlecht, richtig oder falsch per se, sondern nur in Bezug auf etwas anderes. Dazu ein simples Beispiel: Die Sonne ist willkommen und wohltätig, wo es lange Zeit im Jahr kalt und dunkel ist. In trockenen, heißen Wüstenregionen jedoch sehnt man sich eher nach Wolken und Regen.

Es ist für uns westlich geprägte Menschen, die wir geradezu süchtig sind, nach Werteinteilungen, Hierarchien und Bewertungen, von dramatischer Wichtigkeit, dies wirklich zu begreifen in aller Konsequenz und Tiefe! Doch nicht jeder Heiler und jede Heilerin außerhalb Europas ist Schamane oder Schamanin. Der Begriff Schamane kommt aus dem Tungusischen (eine Altaisprache in Sibirien) und meint: "schütteln", "außer sich sein", "in Verzückung/ Trance geraten". Die Trance ist also ein wesentlich bestimmender Aspekt. Schamane ist nur, auf wen die (im Idealfall) fünf Faktoren zutreffen:

  1. Die Berufung zu dieser Aufgabe durch die unsichtbare Welt (durch Krankheiten, Visionen, soziale Ausgrenzung, Träume etc.).
  2. Die Fähigkeit, in Trance zu fallen, sie willentlich steuern und wieder verlassen zu können.
  3. Jahrelange Lehrzeit bei anderen Schamanen, um die Strukturen der unsichtbaren Welt zu verstehen und Techniken von Diagnose und Therapie zu erlernen.
  4. Öffentliche Prüfung, um die erworbenen Fähigkeiten zu beweisen.
  5. Schwur, diese Fähigkeit ausschließlich zum Wohle anderer einzu- setzen und nicht für persönliche egoistische Zwecke, in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen, Tag und Nacht, ohne geregelte Arbeitszeiten.

Heil-Experten

Daher sind nicht alle Heiler und Heilerinnen automatisch auch Schamanen und Schamaninnen. Jede Kultur fand andere Bezeichnungen für spezifische Heiltätigkeiten. Hier drei ausgewählte Beispiele.

Nordamerikanische Indianer

sind Medizinmänner oder -frauen. Sie verfügen über Kenntnisse von Mensch, Natur und Kosmos, die sie in Rituale umsetzen, um Einzelne und Gruppen mit allen Komponenten ins Gleichgewicht zu bringen. Dazu fallen sie nicht notwendigerweise in Trance.

Afrikaner

sind Fetischzauberer, Orakelpriester, Inyanga oder Izangomas. Die Kenntnisse werden geheim gehalten und geheim vermittelt. Dabei spielt Magie eine wesentliche Rolle, wie auch Hierarchie. Die Magie kann sowohl für heilende als auch tödliche Zwecke eingesetzt werden. Darin unterscheiden sich afrikanische Heilrichtungen vom Amazonasschamanismus, wo der Kampf auf der Ebene der Schamanen ausgetragen wird, nicht aber zum Wehe der Patienten.

Balinesen, Brasilianer oder Bewohner von Haiti (Karibik)

sind Tempeltänzer oder Medien, Voodoo/ Candomblé-Priester, bzw. Anhänger. Sie werden spontan von einem Gott/ Geist/ einer Macht besessen, ohne Trance willentlich herbeiführen, lenken oder verlassen zu können. Sie erinnern sich nicht an das Trancegeschehen, werden nicht ausgebildet und setzen ihre natürliche Veranlagung, in Trance fallen zu können nicht für Heilzwecke ein - auch wenn der Zustand für sie selbst und die Umgebung einen sozialstabilisierenden Wert hat.

Die drei knappen Beispiele können in dieser Kürze lediglich eigene Überlegungen anregen, um ein differenziertes Verständnis der kulturellen Hintergründe zu stimulieren, denen sich das Handbuch der Ethnotherapien widmet. Sie können nur eine Ahnung vermitteln, wie vielfältig und geographisch unterschiedlich Konzepte, Motivationen und Methoden von Experten sind, die sich der Einheit von Körper, Geist und Seele widmen und den Menschen in mannigfaltige Bezüge zu Gesellschaft, Natur und Kosmos stellen - und zwar sowohl auf materieller, wie auch immaterieller Ebene.

Diese Unterschiede sind wesentlich begründet durch ökologische Lebensräume und historische Prozesse, über die man sich in weiterführender Literatur eingehend informieren kann, was lohnenswert und spannend ist. Ebenso anregend und informativ empfinden wir auch das vorliegende Werk, das Handbuch der Ethnotherapien.



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